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Werkgeschichte

Fast vier Jahrzehnte Arbeit für über fünfzigtausend Jahre Geschichte

Ein Geschichtswerk hat immer auch ­seine Werkgeschichte. Wie kam es zustande, ­warum erscheint es jetzt? Und was geschah da eigentlich, bevor an den zehn Bänden der neuen Basler Geschichte gearbeitet wurde? Mitverfasser und CMS-Archivar André Salvisberg auf Spurensuche.

Es ist eine Binsenweisheit, dass wir unser – manchmal mehr, manchmal weniger – bewährtes Wissen von Zeit zu Zeit aufarbeiten sollen. Genau das tut die neue Basler Geschichte, die bald in den Verkauf kommen wird. Sie geht den Weg von altsteinzeitlichen Anfängen zum unmittelbaren Jetzt, und ihrem Weggepäck entnimmt sie die aktuellen Instrumente der Geschichtsforschung und wendet diese an. Unbekanntes arrangiert unser historisches Wissen neu, Bekanntes steht plötzlich schief in der Landschaft, weil wir so völlig unvorbereitet waren auf das, was in den letzten Jahren über uns kam und hier erstmals in einem grösseren Zusammenhang dargestellt ist. Ein Mammutprojekt mit zig Beteiligten endet, die Stiftung Stadt.Geschichte.Basel hat ihren Zweck erfüllt.


Aber was war davor?

Nichts war schon immer da, so auch Stiftung und Projekt. Ihre Grundlage ist ein Grossratsbeschluss des Jahres 2016. Das Kantonsparlament stimmte mit grosser Mehrheit dem Antrag der Regierung zu, eine neue Basler Überblicksgeschichte finanziell zu unterstützen. Das Parlament winkte die Vorlage allerdings nicht einfach durch. Es gab klare Pros und Contras, es gab das scheinbar eingemittete, aber doch ablehnende «Im Prinzip ein Ja». Die Meinungen gingen vom Appell «Wir brauchen diese Basler Geschichte» bis zur Empörung, dass Basel «offensichtlich zu viel Geld» habe. Eine gewisse Spannung herrschte noch, aber ein Referendum wurde nicht ergriffen. Nun deckten öffentliche Gelder einen guten Teil des Neun-Millionen-Franken-Unterfangens, und Private durften beruhigt davon ausgehen, dass ihre eigenen Zuwendungen einen festen Boden haben würden.

Demokratisch angetriebene Mühlen, wenn sie einmal in Gang gesetzt sind, füllen Geldsäcke sehr zuverlässig. Aber sie brauchen ihre Zeit, in die Gänge zu kommen. Die Politik war schon länger aktiv gewesen. 2007/08 hatten drei Grossratsmitglieder gefordert, dass der Kanton in Sachen Basler Geschichte aktiv werde. Der Grosse Rat stellte sich 2011 und 2013 hinter ihre Forderungen, anfangs gegen den Willen der Regierung, die den Evergreen «andere dringliche Staatsaufgaben» bemühte. Erst 2016 legten alle politischen Instanzen keine Steine mehr in den Weg, was entscheidend war. Die öffentlichen Gelder waren der nötige Treibstoff, der das Projekt ins Rollen brachte. Die Stiftung wurde gegründet und sammelte weitere Gelder, die Projektorganisation organisierte sich, die Bandteams machten sich an die Arbeit.


Aber was war davor?

Was die Regierung vorlegte und was das Parlament beschloss, war kein Eigengewächs der politischen Kreise. Ihm gingen mehrere Jahre Arbeit voraus, die andere geleistet hatten. Tatsächlich hatte alles, was den Rahmen für die Umsetzung ab 2017 gab, der Verein Basler Geschichte vorbereitet. Er war aus der Unwilligkeit und dem Zweifel entstanden, den die Regierung zumindest 2011 nicht grundlos formuliert hatte: Das Projekt würde das künftige Basler Geschichtsverständnis massgeblich prägen, und Behörden allein hätten den Auftrag erteilt und das Geld dafür gegeben. Die Kritik an «staatlich verordneter Geschichtsschreibung» fand ihre rasche Antwort im «Verein Basler Geschichte», der sich Ende 2011 gründete.

Im Verein sammelte sich die ganze Bandbreite der Geschichtsinteressierten Basels: Profis und Laien, institutionell Verankerte und Private, Alte und – für einen solchen Verein eher ungewöhnlich – Junge, und das in dreistelliger Mitgliederzahl. Sie unternahmen es, mittels Vorstandsarbeit, Vereinsversammlungen und Workshops aus Ideen Konzepte zu machen: Welche Inhalte und Formate müsste das Grossprojekt haben, welche Organisationsstrukturen wären geeignet, wie viel würde es kosten, wann könnte man starten, und wann sollte es enden? 2014 übergab der Verein sein ausführliches Konzept der Regierung, die versprochen hatte, konkrete Vorstellungen aus der Mitte der Zivilgesellschaft zu unterstützen. Gleich danach ging der Verein an die Öffentlichkeit und stellte das Vorhaben mit Standaktionen vor. In Wunschbücher konnten alle hineinschreiben, was sie gerne aus der Geschichte wissen wollten oder was andere endlich wissen sollten. Mit dem politischen Druck des Parlaments, dem detaillierten Vorprojekt des Vereins und der öffentlichen Aufmerksamkeit wurde die Finanzierungsvorlage ein Muss.


Aber was war davor?

Davor war das Aber. Vor der neuen Geschichte gab es ein Scheitern, obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Die vielbändige Reihe wird als bisher umfangreichste Arbeit eine lange Reihe früherer Gesamtdarstellungen weiterführen. Ihre Titel sind: «Kleine Geschichte der Stadt Basel», «Basel – Mittendrin am Rande», «Basel – Geschichte einer städtischen Gesellschaft», «Basler Geschichte», «Geschichte der Stadt Basel von der Reformation bis zur Gegenwart», «Geschichte der Stadt Basel im Mittelalter», «Geschichte der Stadt Basel», «Geschichte der Stadt Basel von der Gründung bis zur Neuzeit», «Geschichte der Stadt und der Landschaft Basel», «Basler Chronik». Rund 450 Jahre früherer Gesamtdarstellungen verteilen sich auf folgende Jahre: 1580, 1786 – 1822, 1877, 1907 – 1924, 1917, 1942, 1986, 2001, 2008. Das wirkt wie eine beschleunigte und immer dichtere Reihe. Aber in den Jahren nach 1986 versteckt sich eine Leerstelle.

1987 und 1989 brachten parlamentarische Initiativen eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der Basler Geschichte aufs Tapet. In vielen Kantonen wurde damals an Gesamtgeschichten gearbeitet. Der Grosse Rat beschloss 1991 einen Finanzierungskredit für eine «Neue Basler Geschichte». Das Referendum folgte jedoch auf dem Fuss, es klagte, der Kanton leiste sich einen Luxus in schwieriger Finanzlage. Wer es sehen wollte, erkannte darin auch den Streit um die «richtige» Geschichtsschreibung. Es war die Zeit der Polemik über die staatstragenden Feiern zu den Jahreszahlen 1939 und 1291. Weitere, nun lokale Bilderstürmerei wurde befürchtet. Das Stimmvolk schickte den Kredit im Jahr darauf mit 72 Prozent Ablehnung ganz weit bachab. Der Stachel sass tief. Die drei Publikationen von 2001 und 2008 hielten sich bedeckt. Statt Forschungslücken zu schliessen, sprachen sie von «Spurensuche» und «skizzieren», von «kurz» und von «knapp». Kein Vergleich mit dem Autor von 1986, der sich mit seinem Werk wie selbstverständlich zum «Geschichtsschreiber seiner Vaterstadt» erklärt hatte. In der Folge setzten die älteren Geschichtswerke – in Inhalt und Auftritt selbst schon Geschichte geworden – noch mehr Staub an. Die grosse Leere konnte die eifrige Basler Geschichtsschreibung mit noch so vielen Spezialdarstellungen füllen. Kleiner wurde sie dadurch nicht. Geschichtsschreibung ohne Übersichtsdarstellung ist ein Fass ohne Boden.


Das Aber war schon immer davor

Das Übliche bei Überblickswerken ist, dass sie fragen, was davor war, und dieses Davor mithilfe dessen erzählen – auch erzählen müssen –, was danach kommt. Leicht passiert es einem dann, die Geschichte als Zeitpfeil zu verstehen, der gar nicht anders kann, als ins Ziel zu fliegen. Geschichte ist aber verflochtener und überraschender. Sie steckt voller Aber – man muss damit klarkommen. Deshalb wurde die Vorgeschichte des neuen Geschichtswerks hier mit Absicht gegen den Zeitstrahl erzählt. Es hätte auch anders laufen können. Es gab schon in den 1990er-Jahren einen ebenso klaren Bedarf für das erste Projekt wie später für das zweite, in den wissenschaftlichen Ansprüchen unterscheiden sich die Konzepte beider nicht. Und die finanziellen Bedenken, die auf der anderen Seite eingeworfen wurden, wirken wie Copy/Paste. Die Spannung, die beim Finanzierungsbeschluss 2016 aufkam, war eine immer noch sehr gegenwärtige Erinnerung daran, wie es 1992 nicht geklappt hatte. Der geglückte zweite Anlauf ist aber keine späte Genugtuung. Es gibt nur das Gelingen unter den eigenen Bedingungen.