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Forschung

Resilienz ist keine Superkraft

Drei Forschende der Pädagogischen Hochschule FHNW erklären, warum Resilienz mehr ist als Selbstoptimierung und weshalb eine resiliente Entwicklung stark von gerechten sozialen Rahmenbedingungen abhängt.

 

In letzter Zeit hat der Begriff Resilienz einen regelrechten Boom erlebt, nicht nur in der pädagogischen und psychologischen Forschung, sondern auch in den Medien, Bildungseinrichtungen und Unternehmen. Diese Entwicklung ist unter anderem Ausdruck gesellschaftlicher Verunsicherung angesichts globaler Krisen wie Klimawandel, Pandemien oder Kriegen. In solchen Kontexten wird Resilienz zunehmend als individuelle und kollektive Bewältigungsressource betrachtet oder gar verkürzt als Selbstoptimierungsstrategie vermarktet. Populärwissenschaftliche Perspektiven auf Resilienz konzentrieren sich damit oft zu stark auf individuelle ‹Stärke› und Selbsthilfemittel und vernachlässigen die Bedeutung systemischer Risikofaktoren.

 

Ein lebenslanger Prozess

Der Begriff Resilienz stammt ursprünglich aus der Physik (lat. resilire) und beschreibt ein elastisches Material, das nach einer Verformung wieder ‹zurückfedert›. Deshalb wird Resilienz oft mit psychischer Widerstandsfähigkeit oder individueller Stärke gleichgesetzt, eine Art ‹Stehaufmännchen›. In den Humanwissenschaften haben bahnbrechende Studien (Werner & Smith 1982; Rutter 1987) in den 1970er- und 1980er-Jahren diese Metapher aufgegriffen, konzentrierten sich aber zunächst auf vermeintlich ‹unverwundbare› Kinder. Dieses Verständnis des Begriffs legt jedoch nahe, dass es sich um einen Akt der Stärke eines Individuums handelt, das, egal was es durchmacht, den Weg zurück in seine Ursprungsform findet. Heute wird Resilienz nicht mehr als starres Persönlichkeitsmerkmal verstanden, sondern als ein lebenslanger, kontextabhängiger Anpassungsprozess, der biologische, psychologische und soziale Ebenen umfasst (siehe Ungar 2012; Masten 2014; Aksoy 2023; Favre 2023; Kassis et al. 2024, 2025).

 

Rückgriff auf Ressourcen

Laut Michael Ungar (2012) hängt die Entwicklung von Resilienz davon ab, ob Individuen und Gemeinschaften Zugang zu wichtigen Ressourcen erhalten – etwa Gesundheitsversorgung, Bildung, Freunde, Familie, Vereine –, und ob sie die Möglichkeit haben, bei der Gestaltung dieser Ressourcen mitzureden und mitzuentscheiden. Ungar zufolge beschreibt Resilienz jene Individuen oder Gemeinschaften, die trotz belastender Lebensumstände – wie chronischem Stress oder Traumatisierung – in der Lage sind, ihre Funktionsfähigkeit im Alltag aufrechtzuerhalten oder positive Entwicklungswege zu beschreiten. Die Voraussetzung dafür ist der Zugang zu Ressourcen und die Fähigkeit, diese aktiv zu gestalten. Resilienz ist daher untrennbar mit Chancengerechtigkeit und Partizipationsmöglichkeiten verknüpft, insbesondere für Kinder und Jugendliche, die auf förderliche Rahmenbedingungen angewiesen sind, welche sie selbst kaum beeinflussen können. Dies zeigt sich auch in der Forschung: Jugendliche mit einem höheren sozioökonomischen Status befinden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit auf einem resilienten Entwicklungspfad (Kassis et al. 2024).

 

Gewöhnliche Magie

Das moderne Verständnis von Resilienz basiert auf dem biopsychosozialen Modell. Dieses geht davon aus, dass genetische, epigenetische, psychologische und soziale Faktoren bei der Entwicklung von Resilienz eine Rolle spielen (Kalisch et al. 2015). Aus dieser Perspektive ist Resilienz nicht angeboren, obwohl genetische Veranlagungen eine gewisse Anfälligkeit oder Anpassungsfähigkeit gegenüber Belastungen begünstigen können. Entscheidend ist jedoch das Zusammenspiel biologischer Voraussetzungen mit Umweltfaktoren und individuellen Erfahrungen. Ziel der Resilienzförderung ist es daher, Risikofaktoren zu minimieren und Schutzfaktoren zu stärken. Ann Masten (2016:27) bringt es im Kontext von Kindern und Jugendlichen auf den Punkt, wenn sie festhält, dass Resilienz «gewöhnliche Magie» ist, nämlich das Ergebnis alltäglicher menschlicher Schutzsysteme, die in Familien, Schulen und Gemeinschaften wirken. Eine ausschliessliche Konzentration auf Schutzfaktoren greift jedoch zu kurz, da Risikofaktoren die Entwicklung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nachhaltig stören.

Artikel 1

Risiko- und Schutzfaktoren

Risikofaktoren sind Einflüsse, die nachweislich eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen können. Dazu gehören strukturelle Risiken wie systemische Marginalisierung, Armut und mangelnde Partizipation ebenso wie individuelle chronische Belastungen. Zu letzteren gehören beispielsweise verbale, physische, psychische und sexuelle Gewalterfahrungen – etwa durch Eltern, pädagogische Fachkräfte, Gleichaltrige oder andere Betreuungspersonen. Schutzfaktoren sind individuelle, dennoch förderbare Merkmale wie Selbstwirksamkeit, Selbstwertgefühl, Selbstbestimmung und sichere Bindungen, aber auch soziale Unterstützung durch pädagogische Fachkräfte, Sozialarbeitende, Eltern und Gleichaltrige sowie gesellschaftliche Ressourcen, kulturelle Verankerungen und sichere Räume.

 

Die systemische Dimension

Angesichts der zunehmenden Popularität des Resilienzbegriffs ist es jedoch entscheidend, die systemische Dimension nicht aus den Augen zu verlieren. Umweltfaktoren wie Bildungsgerechtigkeit, Zugang zu Unterstützungssystemen, stabile soziale Beziehungen und partizipative Strukturen beeinflussen massgeblich, ob und wie Menschen resilient handeln können. Eine rein individualisierte Sichtweise greift zu kurz, denn sie vernachlässigt die Verantwortung von Gesellschaft, Institutionen und Politik, resilienzfördernde Bedingungen zu schaffen.

Konkret bedeutet dies im pädagogischen Kontext, wissenschaftlich fundierte Konzepte zur Resilienzförderung einzuführen, die auf die Stärkung sozial-emotionaler Kompetenzen, Partizipation und Selbstwirksamkeit zielen. Darüber hinaus sollten gewaltpräventive und traumapädagogische Ansätze in der Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften fest verankert werden, um Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung nachhaltig zu unterstützen. Auch wenn diese Massnahmen auf den ersten Blick nach grossem finanziellem Aufwand aussehen, hat sich gezeigt, dass sich öffentliche Investitionen in Frühförderprogramme durch niedrigere Folgekosten amortisieren (OECD 2017).

Resilienz ist demnach keine individuelle Superkraft, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von biologischen Voraussetzungen, sozio-emotionalen Kompetenzen und gerechter sozialer Rahmenbedingungen.

 

Dr. Dilan Aksoy, Dozentin, Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie, PH FHNW
Prof. Dr. Céline Anne Favre, Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie, PH FHNW
Prof. Dr. Wassilis Kassis, Institut für Forschung und Entwicklung, PH FHNW

Literatur:

Aksoy, D. (2023). Non-dichotomous violence resilience as a dynamic concept that is adversity-, development-, and domain-specific in adolescents despite exposure to family violence (Doctoral dissertation, University of Zurich). 

Favre, C. (2024). School as a Safe Space: Understanding Socio-emotional Development of Adolescents in School with Experience of Family Violence Through Peer Dynamics (Doctoral dissertation, Institut für Bildungswissenschaften der Universität Basel).

Kalisch, R., Müller, M. B. & Tüscher, O. (2015). A conceptual framework for the neurobiological study of resilience. Behavioral and Brain Sciences, 38, e92, https://doi.org/10.1017/S0140525X1400082X

Kassis, W., Dueggeli, A., Govaris, C., Kassis, M., Dittmar, M., Aksoy, D. & Favre, C.A. (2024). Longitudinal negotiation, navigation processes, and school success in high school: A two-wave latent transition approach. Adversity and Resilience Science, 5(3), 219-240.

Kassis, W., Vasiou, A., Aksoy, D., Favre, C.A., Talmon-Gros Artz, S. & Magnusson, D. (2025). Parenting style patterns and their longitudinal impact on mental health in abused and nonabused adolescents. Frontiers in Psychiatry, 16, 1548549.

Masten, A.S. (2014). Ordinary magic: Resilience in development. New York: Guilford Press.

Masten, A.S. (2016). Resilienz: Modelle, Fakten & Neurobiologie: Das ganz normale Wunder entschlüsselt. Junfermann Verlag.

OECD (2017). Starting Strong 2017: Key OECD Indicators on Early Childhood Education and Care, Starting Strong, OECD Publ., Paris, https://doi.org/10.1787/9789264276116-en

Rutter, M. (1987). Psychosocial resilience and protective mechanisms. American Journal of Orthopsychiatry, 57(3), 316–331. https://doi.org/10.1111/j.1939-0025.1987.tb03541.x

Ungar, M. (2012). The social ecology of resilience: A handbook of theory and practice. New York: Springer. https://doi.org/10.1007/978-1-4614-0586-3

Werner, E.E. & Smith, R.S. (1982). Vulnerable but invincible: A longitudinal study of resilient children and youth. New York: McGraw-Hill.