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Naomi Gregoris im Gespräch mit Hansi Voigt

Meinungsbildung

Eine Meinung, die nicht mit Fakten unterlegt ist, kann gefährlich werden, davon ist Hansi Voigt überzeugt. Der Medienunternehmer hat 20 Minuten Online aufgebaut, war Mitbegründer von watson.ch und hat sich jetzt zum Ziel gemacht, unabhängige Medien miteinander zu vernetzen und zugänglich zu machen. Gründe dafür gibt es genug. Der klassische Journalismus steckt in einem grundlegenden Umbruch: Inserate und Werbeeinnahmen, welche die Zeitungen mitfinanziert haben, sind zu grossen Techfirmen abgewandert, was Medienhäuser zwingt, zum Teil drastisch zu sparen – besonders bei den Kulturredaktionen.

Dem Abbau der klassischen Medienkulturberichterstattung stehen viele vereinzelte kulturjournalistische Initiativen gegenüber, die jedoch oft wenig Aufmerksamkeit finden. Ihnen fehlen die Resonanz, die Auseinandersetzung und eine breite Öffentlichkeit. Hier setzt Voigts Projekt We.Publish an. We.Publish ist eine digitale Plattform, die als Open-Source-Infrastruktur unabhängige Medien miteinander verbindet, publizistische Inhalte Interessierten zugänglich macht und die Reichweite der einzelnen Medien vergrössert. Auf der Plattform gibt es einen Kulturfeed. So werden explizit unabhängige kulturjournalistische Angebote und die Medienvielfalt in Basel und der Schweiz gefördert. Auf diese Weise soll Kultur wieder mehr Resonanz bekommen, die Glaubwürdigkeit unabhängiger Medien gesichert und Meinungsbildung nicht zum Privileg werden.

Naomi Gregoris im Gespräch mit Hansi Voigt, Co-Geschäftsführer We.Publish Foundation

Hansi Voigt, wie funktioniert Meinungsbildung heute?

Wir haben nicht mehr nur die Tagesschau, die alle schauen und dann wissen, was auf der Welt passiert. Es gibt nicht mehr diese eine Quelle, sondern ganz viele verschiedene Quellen mit unterschiedlicher Qualität und Autorität. Das ist ein grosses Problem. Einerseits kommerziell: Niemand will mehr nur ein NZZ-Abo für bis zu 1'000 Franken, sondern möglichst viele Möglichkeiten, Informationen zu bekommen, zu speichern und zu teilen. Aber weil sich das die meisten nicht leisten können, wird das auch ein Problem für die Demokratie: Die stirbt hinter der Paywall, weil der Zugang zu qualitätsgesicherten Informationen immer mehr zu einer Frage des Privilegs wird. Menschen, die sich keine Abos leisten können oder wollen, sind auf der freien Beschusswildbahn und haben Zugang zu jeglicher Art von Informationen, ob geprüft oder nicht.

Meinungsbildung wird also zu einer Glaubensfrage?

Zunehmend, ja. Wir diskutieren nicht mehr faktenbasiert. Das ist eine akute Bedrohung für die Demokratie. Wir wissen zunehmend weniger, was wahr und was unwahr ist. Damit wird Desinformation betrieben, um die Wirkung von rationalen Informationen und Wahrhaftigkeit zu hintertreiben und glaubwürdige Instanzen zu zersetzen. Beispiel Russland: Wer in Russland Medien konsumiert, ist überzeugt davon, dass sich das grosse Land heldenhaft gegen ukrainische Nazis zur Wehr setzt. Das Internet dort besteht bezüglich Informationen nur noch aus acht bis zehn gesteuerten Quellen. Und die schaffen es, eine andere Wirklichkeit herzustellen.

Gerade in der Schweiz sind die Anreize aber oft auch ökonomisch, nach dem Motto: Mehr Klicks, mehr Geld.

Auf jeden Fall. Das ist das Problem: Es ist viel billiger, irgendeinen Bullshit aufzuschreiben und dafür Klicks zu bekommen, statt langwierig zu recherchieren. Es rentiert sich, Dinge zu schreiben, die knapp an der Wahrheit vorbei sind. Mit dieser «gedehnten Wahrhaftigkeit» hat man die Verpflichtung zu einer glaubwürdigen, transparenten Berichterstattung ein Stück weit aufgegeben. Aber wir Konsument:innen nehmen das auch in Kauf: Nur die spröde Wahrheit wollen wir nicht lesen, sonst gäbe es die ganzen Boulevardzeitungen nicht.

Welche Rolle spielt in dieser Diskussion die Kulturberichterstattung?

Speziell an der Kulturberichterstattung ist, dass die relevante Diskussion über das Ereignis und die Relevanz des Ereignisses an und für sich untrennbar sind. Kein Mensch braucht Kultur, die nicht inspiriert und über die niemand redet. Aber Kultur, die niemand beschreibt, hat nicht einmal die Chance, zur Diskussion gestellt zu werden. Und ohne Diskussion ist Kultur ohne Belang. Das hängt über der Frage der Kulturberichterstattung. In diesem Sinne sehe ich in ihr eine gewisse Vorreiterrolle. Denn all die Erscheinungen, die wir im Versagen der Öffentlichkeit bei Kulturthemen sehen, sehen wir auch in anderen gesellschaftsrelevanten Bereichen. Etwa im Lokalen, aber auch bis in die nationale Politik.

Wie können wir diese Öffentlichkeit von Kultur wieder herstellen?

Unsere Idee wäre eine Art Kultur-Chronist:innenpflicht. Dass jemand an Veranstaltungen geht, darüber schreibt und den Inhalt als Service zur Verfügung stellt. Das müssen keine Meisterwerke sein, sondern ein einfaches «Ich war da, das passierte, und so fand ich es». Das hat vielleicht sehr wenig damit zu tun, was ein klassischer Kulturjournalist von sich erwartet. Aber es ist womöglich viel näher an dem, was das breite Publikum möchte oder braucht.

Welche Rolle kann dabei eine Plattform wie we.publish spielen?

Für uns ist wichtig, dass das Kulturinteresse und das Kulturangebot möglichst barrierefrei zueinander finden. We.Publish ist daran, die Suche nach kulturellen Angeboten – also das Interesse – möglichst direkt mit dem Angebot an kulturellen Ereignissen und entsprechender Berichterstattung zusammenzuführen. Zum Beispiel in Form einer Agenda, die ausser dem Datum auch bisher erschienene Artikel zur Veranstaltung oder dem Thema zur Verfügung stellt, inklusive allfälliger Debatte.

Sind Plattformen wie we.publish mittelfristig das, was Redaktionen früher waren?

We.Publish wird nie als eigener Brand oder eigene Marke an die Öffentlichkeit gehen. Die wichtigste Aufgabe von Redaktionen – der Aufbau einer Marke, bei denen man sich zu Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit verpflichtet – bleibt Sache der einzelnen, unternehmerisch und redaktionell völlig selbstständigen Medien. We.Publish kann dabei helfen, publizistische Standards zu etablieren, zu denen sich die teilnehmenden Medien verpflichten wollen. Wir wollen ein Medienökosystem ermöglichen, in dem möglichst viele selbstständige Redaktionen zusammenfinden und Synergien nutzen können. Und natürlich hoffen wir auf ein breites Publikum.

wepublish.ch