Das dreimal jährlich erscheinende Online Magazin RADAR der Christoph Merian Stiftung informiert über die Hinter- und Beweggründe des CMS-Engagements.

Die gedruckte RADAR Ausgabe mit dem ganzen Inhalt zum Thema kann hier bestellt werden.

Vier Qualitäten

Kraft der Kultur

In diesen Zeiten fällt es schwer, optimistisch zu sein. Die Gegenwart, aber auch die Zukunft erfüllt uns nicht mit Hoffnung, im Gegenteil. Sie sieht düster aus. Politische Konflikte, wie der Krieg in der Ukraine oder die massiven Proteste im Iran, aber auch ökologische und soziale Probleme machen uns zu schaffen. Winter ohne Schnee und glühende Hitze im Sommer sind nicht mehr nur Einzelerscheinungen. Der Graben zwischen Arm und Reich wächst unaufhaltsam, es fehlt an ausgebildeten Fachkräften in diversen Branchen – die Liste der aktuellen globalen, aber auch nationalen Herausforderungen unserer Gesellschaft kann mühelos erweitert werden. Unter der erdrückenden Last all dieser Krisen und Katastrophen stellt sich der Christoph Merian Stiftung (CMS) als Kulturförderin unweigerlich die Frage, was die Kultur in Anbetracht dieser Probleme noch zu leisten vermag oder ob es nicht sinnvoller wäre, die Förderung vollumfänglich auf soziale oder ökologische Projekte auszurichten.

Am liebsten möchte man diese Frage beiseiteschieben, tabuisieren und gar nicht darüber nachdenken. Aus Angst, es könnte ein Körnchen Wahrheit in der Frage stecken. Doch reflektieren wir unsere kulturellen Erfahrungen der letzten Jahre und analysieren das Engagement der CMS in diesem Bereich bezüglich seiner Wirkung, dann schlägt das Pendel aus. Denn Kultur leistet viel mehr als Unterhaltung, sie ist mehr als blosser Ausdruck von Kreativität und sie stillt grundlegendere Bedürfnisse als nur reinen Zeitvertreib. Kultur ist zentral und relevant für uns Menschen. Sie leistet einen bedeutenden Beitrag daran, dass unsere Gesellschaft funktioniert. Dies lässt sich anhand von vier Hauptqualitäten mit unterschiedlichen Wirkungen verdeutlichen.


Zusammenhalt

Es ist nicht einfach, in unserer diversen und individualisierten Gesellschaft zusammenzuleben. Viele Bevölkerungsgruppen – Migrant:innen, armutsbetroffene Menschen, Alte, um nur wenige zu nennen – fühlen sich diskriminiert, sich selber überlassen oder einsam. Das persönliche Engagement in Vereinen oder im Quartier nimmt ab, die meisten schauen nur für sich. Damit das Zusammenleben in einer Stadt mit ihren unterschiedlichen Bewohner:innen funktioniert, ist es jedoch wichtig, alle am sozialen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Kulturprojekte beteiligen Menschen, geben ihnen das Gefühl, dazuzugehören und etwas bewirken zu können, das heisst auch, sie können Hoffnung geben. Sie schaffen Verständnis, ermöglichen neue Erfahrungen, Verbundenheit und Zugehörigkeit. Kulturprojekte fördern die vielfältigen sozialen Beziehungen und den Zusammenhalt der Menschen.

Identität

Wer nicht weiss, woher er kommt, kann auch nicht wissen, wohin er geht. Deshalb ist das Bewahren, Erhalten und Erforschen unserer kulturellen Wurzeln unverzichtbar, denn auf dieser Grundlage beruhen ­unsere kulturellen Identitäten, die auch künftige Generationen prägen. Das kulturelle Erbe ist nicht statisch, sondern äusserst dynamisch, da jede Gegenwart und jede Generation aus dem jeweiligen zeithistorischen Kontext und deshalb mit neuen Augen auf die Geschichte und ihre Zeugnisse schauen und sie dann in ihre Zukunftsentwürfe einbauen. Kulturprojekte, die sich mit unserer Geschichte und mit unseren historischen Zeugnissen auseinandersetzen, machen den Menschen zu dem, was er oder sie ist. Sie geben dem Einzelnen, aber auch einem Kollektiv eine bestimmte Prägung, eine Identität.

Meinungsbildung

Für das Zusammenleben in einer Stadt und dessen Gestaltung braucht es demokratische Kompetenzen und Grundlagen. Um sich eine eigene Meinung bilden zu können, ist der Zugang zu Informationen wichtig. Um sich in der Masse von News und Fakenews orientieren zu können, braucht es Einordnung. Dies leisten zum Beispiel Zeitungen, Kulturmagazine und digitale Netzwerke. Weiter sind Debatten und Gespräche wichtig, Aushandlungsprozesse müssen erlernt und ermöglicht werden. Kulturprojekte fördern diese Meinungsbildung und Interessensabgleiche – Texte über Ausstellungen und Theaterstücke geben Einsicht und Übersicht – Gesprächsformate ordnen ein und lassen das Publikum zu Wort kommen.

Zukunftsfähigkeit

Eigentlich müssten wir sofort unser Leben ändern. Wir dürften kein Fleisch mehr essen, nicht mehr bei H&M einkaufen und schon gar nicht mehr fliegen. Doch auf all diese Dinge verzichten? Lustlos die Welt retten? Kulturprojekte bieten alternative Vorstellungen und neue Bilder. Sie können die Welt umdrehen. Sie lassen uns umdenken, ohne dass es sich als Verzicht anfühlt. Sie zeigen, dass wir durchaus fähig sind, gewohnte Muster zu verlassen, und helfen uns dabei. Sie reflektieren über den wichtigen Wandel und machen uns mit Digitalisierung, KI und dem Metaverse bekannt. Sie helfen uns, Fähigkeiten zu entwickeln, die wir für unsere Zukunftsgestaltung brauchen.

Es steht ausser Frage, dass die Kultur nicht genug bewirkt. Die Kultur, das Kulturschaffen und die Kulturschaffenden haben sich verändert. Es geht nicht mehr nur darum, in den definierten Sparten Exzellenz zu erreichen und zu präsentieren. Für einen Grossteil der Kulturschaffenden ist es heute wichtig, neben der Kreativleistung auch soziale Ziele zu formulieren. Die Kultur stärkt die Menschen und unsere Gesellschaft, sie unterstützt unser Zusammenleben und macht uns schliesslich fit für die Herausforderungen der Zukunft. Deshalb wird die Ausgangsfrage – lohnt es sich, in Kultur zu investieren? – hinfällig, und die Antwort muss lauten: Unbedingt weiter in Kultur investieren und die Kulturarbeit als Mittel sozialer Problemlösungen fordern, fördern und unterstützen. Denn nur mit ihr kann eine Gesellschaft geschaffen werden, in der es sich zu leben lohnt, in der jede:r Einzelne sich zugehörig fühlt und die Zukunft bewältigbar ist.

TEXT: NATHALIE UNTERNÄHRER, LEITERIN ABTEILUNG KULTUR CMS