Das dreimal jährlich erscheinende Online Magazin RADAR der Christoph Merian Stiftung informiert über die Hinter- und Beweggründe des CMS-Engagements.

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Naomi Gregoris im Gespräch mit Tilo Richter

Identität

Was hat eine Stadt mit Identität zu tun? Wenn wir davon ausgehen, dass Identität eine soziale Verortung ist, geprägt von Erinnerung und Entscheidungen, dann spielen physische Orte eine ganz grosse Rolle. In Basel sind das vielleicht die liebgewonnenen Erinnerungen an die morgendlichen Pinguinspaziergänge im Zolli oder die Telefonkabinen am Barfüsserplatz, in denen man in Vor-iPhone-Zeiten letzte Treffpunkte für den Ausgang abmachte. Orte schaffen Erinnerungen und Erinnerungen schaffen Identität. Dieser Überzeugung ist auch der Kunsthistoriker Dr. Tilo Richter, der das digitalisierte Basler Stadtbuch verantwortet und damit aktiv den Identitäten der Basler Bevölkerung nachspürt. Als von Richter bezeichnetes «Stadtgedächtnis» bündelt und erzählt das Stadtbuch Geschichten aus Basel.

Was 1879 (damals noch «Basler Jahrbuch») als historiografische Publikation begann, wurde 1973 mit der Übernahme durch die Christoph Merian Stiftung zu einer Jahreschronik der Stadt Basel, die vom Ergebnis der Volkszählung von 1910 zur erweiterten Elefantenanlage im Zolli (1985) Ereignisse aus allen Lebensbereichen abdeckt und mittels Themen-Dossiers vertieft auf aktuelle und historische Begebenheiten reagiert. 2017 löste die Online-Plattform baslerstadtbuch.ch die traditionsreiche Buchreihe ab – eine Datenbank mit Wissen über die Stadt Basel aus 140 Jahren. Sämtliche Inhalte der 136 Ausgaben des Basler Jahrbuchs / Basler Stadtbuchs (mehr als 43'000 Druckseiten) wurden digitalisiert und sind auf der Plattform verfügbar. Dazu kommt, ebenfalls seit 1879, mit ca. 33'500 Einträgen die Basler Chronik, eine Art Tages-Ticker der Stadt, ergänzt seit 2016 durch etwa acht bis zehn Dossiers pro Jahr zu aktuellen Themen.

Naomi Gregoris im Gespräch mit Tilo Richter, Redaktor Basler Stadtbuch

Tilo Richter, das Basler Stadtbuch bezeichnet sich selbst als «Stadtgedächtnis». Was ist damit gemeint?

Als wir das Basler Stadtbuch digitalisiert haben, suchten wir einen Begriff, der sichtbar macht, wofür es steht. Ein Buch ist es zwar heute nicht mehr, trotzdem hat die CMS den alten Namen beibehalten. Aber wir haben ihm den Untertitel «Stadtgedächtnis seit 1879» gegeben, der mir sehr gut gefällt. Ein Gedächtnis hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber es prägt einen Menschen – und auch eine Stadt. Das Stadtbuch ist kein Archiv mit Millionen von Dokumenten, sondern bietet eine Auswahl an Geschichten, die auch von den Erfahrungen und Sichtweisen der Autorinnen und Autoren gefärbt sind. Diese Geschichten können wir mit Fernseh- und Radiobeiträgen ergänzen, was eine vertiefte Auseinandersetzung ermöglicht.

Ein Gedächtnis hat immer auch Lücken – wie entscheiden Sie, was ins Stadtbuch gehört und was nicht?

Wir haben einen vierköpfigen Beirat, der uns dafür zur Seite steht. Über Social Media ­erreichen wir einen sehr breiten Kreis von Menschen, die uns mit ihren Rückmeldungen zeigen, was für unsere Leserinnen und Leser relevant ist. Wir sind aber auch flexibel und offen für Themen, die abseits der Spur liegen und die nur wir bringen. Letztes Jahr etwa schrieb der Schweizerische Erdbebendienst einen wissenschaftlichen Leitartikel zum Thema Erdbeben in Basel – im Lichte des grossen Bebens, das die Stadt im Jahr 1356 erschütterte.

Wir sind die Summe unserer Erinnerungen – gilt das auch für eine Stadt?

Erinnerung ist, wie auch die eigene Identität, sehr stark mit Personen und Orten verbunden, oft auch mit Emotionen. Ich glaube, dass das ein grosser Vorzug dessen ist, was wir beim Stadtbuch machen. Ganz viele der von uns bespielten Themen haben mit konkreten Orten und Menschen zu tun. Ich würde sagen: Nicht die Stadt ist die Summe der Erinnerungen, sondern die Erinnerungen brauchen die Stadt oder den Ort. Nehmen wir die legendären Telefonkabinen am Barfüsserplatz: Viele kennen sie und haben Erinnerungen daran. Das wiederum eröffnet uns die Möglichkeit, über solche Orte andere und neue Geschichten zu erzählen. Wir bringen den Menschen Themen nahe und schaffen damit auch neue Identitäten.

Wie fördert das Stadtbuch die Identität der Menschen in Basel?

Das Stadtbuch bündelt Wissen und Erinnerungen. So holt es die Menschen ab, aber ermöglicht ihnen auch, die Perspektive zu wechseln oder tiefer zu tauchen. Wir haben das gedruckte Stadtbuch aus verstaubten Regalen geholt und mehr als 43'000 Druckseiten digitalisiert. Ich kann mich also fast unendlich lange durch Themen und Querverweise treiben und inspirieren lassen. Indem wir Wissen über die Stadt, ihre Geschichte und Gegenwart vermitteln, tragen wir dazu bei, dass sich die Menschen mit ihr vertraut fühlen, sie mehr und mehr kennenlernen – sich in ihr zuhause fühlen, sich mit ihr identifizieren.

Das Stadtbuch ist nicht nur Gedächtnis. Das Wissen um die Vergangenheit prägt auch die Zukunft Basels mit. Woran erkennt man das?

Das Wiedergeben von Erinnerungen prägt die Zukunft einer Stadt mit. Eine Stadt ohne Geschichte ist gar keine richtige Stadt. Indem wir sie festhalten und Zusammenhänge zeigen, legen wir im besten Fall eine Spur in die Zukunft. Damit leisten wir auch einen Beitrag zur Meinungsbildung. Wir möchten historisches und heutiges Wissen vermitteln, und das ist ja ­immer in die Zukunft gerichtet: Man nutzt die Erkenntnisse aus der Vergangenheit, um gewapp-
net zu sein für das, was kommt. Oder, noch einfacher: Zukunft durch Herkunft.

Zum Beispiel?

Nehmen wir das Wohnen. Seit Jahrzehnten reflektiert das Stadtbuch, wie die Menschen am Rheinknie leben, wie sie wohnen, welche Stadt sie sich bauen. Es berichtet darüber, welche sozialen Auswirkungen das Wachsen oder das Schrumpfen der Stadt auf ihre Bevölkerung haben, darüber, wie sich der permanente Wandel auch im Stadtbild niederschlägt. Wohnen ist ein Grundbedürfnis und betrifft alle. Das Stadtbuch berichtet, wenn Wohnungsnot oder Obdachlosigkeit Stadtgespräch sind. Oder untersucht, wie die Transformation von Industrie- und Gewerbearealen in neue Wohnquartiere gelingt. Aus all diesen Erfahrungen und mit diesem vielfältigen Wissen können Entscheidungen für die künftige Stadtentwicklung abgeleitet werden – nicht zuletzt bei Abstimmungen. Viele Fragen sind nämlich gar nicht so neu, wie wir manchmal meinen.

baslerstadtbuch.ch