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Interview

«Mein Fokus gilt dem sicheren Ort, nicht dem Trauma»

INTERVIEW: BETTINA HÄGELI

Um Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, zu stabilisieren, braucht es «sichere Orte». So können Selbstheilungskräfte wieder in Gang kommen und Schwieriges kann verarbeitet werden, erklärt die Traumapädagogin Marianne Herzog.

Marianne Herzog, wie kamen Sie dazu, sich intensiver mit dem Thema «Trauma» auseinanderzusetzen?
Während meiner Zeit als Sekundarlehrerin habe ich oft beobachtet, dass die Jugendlichen ihr Potenzial nicht abrufen können. Sie sind dann unkonzentriert oder stören den Unterricht. Ihr Verhalten ist nicht nur für das Umfeld schwierig, sondern auch für sie selbst. Aus diesen Erfahrungen habe ich meine eigene Vorgehensweise entwickelt, wie ich die Jugendlichen wieder für den Schulstoff begeistern kann. Bei einer Weiterbildung zur Traumapädagogin fand ich Antworten, die mir in meiner Ausbildung am Lehrerseminar gefehlt hatten. Plötzlich hatte ich mit dem Wissen über hirnorganische Vorgänge und dem Einbezug von sogenannten Übertragungsphänomenen die Theorie zu meiner intuitiv gewählten Vorgehensweise. Das passte perfekt zusammen.

Wann wird eine psychische Belastung zum Trauma?
Ein Trauma ist eine Verletzung der Seele. Akute seelische Verletzungen heilen oftmals von selbst. Wenn nicht, wird das Trauma chronisch: Die Psyche und oftmals auch der Körper treten in Alarmbereitschaft in Situationen, die objektiv gesehen kein Grund dafür sind. Ursachen für ein Trauma können zum Beispiel Übergriffe, Missbrauch, Verwahrlosung, Krieg oder häusliche Gewalt sein. Wenn die traumatische Erfahrung durch eine Bindungsperson ausgelöst wird, ist dies besonders schwerwiegend. Denn Bindungspersonen wie zum Beispiel Vater oder Mutter haben die Aufgabe, ihrem Kind einen sicheren Ort zu bieten. Fehlt dieser, ist ein Kind dem Geschehen schutzlos ausgeliefert.

Die Begriffe «Trauma» und «Trigger» werden umgangssprachlich oft als Begriffspaar verwendet – zu Recht?
Ein Trigger, also ein Reiz, ist ein Auslöser, der das Trauma reaktiviert. Bildlich gesprochen füllen wir seit unserer Geburt «Erinnerungsbücher», wenn wir uns an einem sicheren Ort gut aufgehoben fühlen. In diesen «Erinnerungsbüchern» sind die Erlebnisse sorgfältig zeitlich und örtlich geordnet. Diese geordneten Erinnerungen geben uns Sicherheit, Stabilität und Selbstvertrauen, denn sie können jederzeit wieder abgerufen werden. Wenn ein Kind nun durch Bedrohungen in Alarmbereitschaft versetzt ist, werden die Erinnerungen zwar auch abgespeichert, aber ungeordnet, zerstückelt, fragmentiert. Das Individuum ist oft nicht in der Lage, diese Fetzen zu verstehen und einzuordnen, das ist kein gutes Fundament, um Selbstvertrauen aufzubauen. Solche Fragmente können jederzeit als Trigger wirken und den betroffenen Menschen wieder in die bedrohliche Situation zurückführen. Ob eine bestimmte Stimmlage, Schweigen, Ignoriertwerden oder eine chaotische Situation, all dies kann je nachdem ein Trigger sein. Wenn Betroffene diese Fragmente zusammenfügen können – mithilfe einer Therapie oder auch durch Selbstheilungsvorgänge –, werden sie diesen Triggern weniger stark ausgeliefert sein. Die Traumapädagogik kann bei diesem Zusammenfügen einen sehr wichtigen Beitrag leisten, und zwar über die Psychoedukation: das Vermitteln vom Wissen über hirnorganische Vorgänge unter Belastungen.

Warum sind Kinder und Jugendliche besonders anfällig für ein Trauma?
In der frühen Kindheit sind wir Menschen höchst verletzlich. Wir sind darauf angewiesen, durch unser engstes Umfeld einen geschützten Ort zu erleben, um ein stabiles Ich aufbauen zu können. So entwickeln Kinder Widerstandsfähigkeit, ein Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, auf ihr Umfeld angepasst zu reagieren.

Wie gefährdet sind Flüchtende?
Viele von ihnen haben Schreckliches erlebt. Doch auch geflüchtete Menschen können in früher Kindheit eine sichere Bindung entwickelt haben. Sie sind damit gut geschützt gegen spätere Traumatisierungen. Das bedeutet, dass sie Krieg, Flucht und die Ankunft in einem fremden Land und einer unbekannten Kultur oft verarbeiten können. Nicht jede Person mit Fluchterfahrung ist also traumatisiert.

Viele von uns fragen sich, wie sie sich gegenüber Geflüchteten verhalten sollen.
Für mich als Traumapädagogin ist es wichtig, dass ich mein Verhalten und meine Haltung immer wieder sorgfältig reflektiere. Beim Überfall von Russland auf die Ukraine habe ich mit meinem Mann überlegt, ob wir eine ukrainische Familie aufnehmen können. Den Platz hätten wir gehabt, doch aufgrund unserer beruflichen Belastung hätten wir ein solches Engagement nicht über mehrere Monate aufrechterhalten können. Das war der Grund, dass wir ein anderes Engagement für ukrainische Geflüchtete gewählt haben. Ich habe mein Buch «Lily, Ben und Omid» ins Ukrainische und Russische übersetzen und drucken lassen, gebe es an Hilfswerke gratis ab und arbeite für Flüchtlingsorganisationen kostenlos in der Schulung von Geflüchteten im Bereich psychischer Gesundheit.

Zeigen Flüchtende spezifische Verhaltensformen, die auf ein Trauma hindeuten?
Es gibt Kinder, die beim Eintreffen in der Schweiz verstummen – und dies nicht nur aufgrund der neuen Sprache. Kinder, die viel Zerstörung erlebten, haben oft die Tendenz, ebenfalls Dinge zu zerstören: Spielzeug oder Gegenstände, die anderen viel bedeuten. Auch ihnen hat ihr Haus, ihre Familie viel bedeutet. Indem sie diese Zerstörung inszenieren, erzählen sie uns ihre Geschichte. Wenn wir dieses Inszenieren richtig deuten, dann können wir ihnen «sichere Orte» bieten, indem wir es mit ihnen aushalten und mit ihnen das Zusammenfügen immer wieder üben: kochen, backen, zeichnen, basteln, singen, eine neue Sprache lernen. Zusammen erleben wir, dass uns das Zusammenfügen zufrieden macht, es ist erfüllend und bereichernd.

Was ist die Stärke Ihrer Arbeitsweise?
Als ich in Basel bei der Fachstelle Förderung und Integration arbeitete, entwickelte ich zwei Koffer, in denen die hochkomplexen hirnorganischen Vorgänge und die Übertragungsphänomene mit dreidimensionalen Materialien dargestellt werden können. Es braucht einfache und eingängige Instrumente, um Lehrpersonen und weiteren Fachleuten, die mit seelisch belasteten Menschen arbeiten, diese Vorgänge und Dynamiken verständlich zu machen. Wir nahmen damals auch zwei Kurzfilme zu diesen Themen auf. In dieser Zeit schrieb ich das Bilderbuch «Lily, Ben und Omid», das den «sicheren Ort» zum Thema hat. Es erklärt, wie das Gehirn unter Belastungen reagiert und zeigt auch auf, dass diese Reaktionen nicht gesteuert werden können. Das ist sehr entlastend. Inzwischen ist das Bilderbuch verfilmt und als englische Ausgabe auf Youtube abrufbar. Das Bilderbuch «Lily, Ben und Omid» gibt es aktuell in 17 Sprachen.

Wie sieht Ihre pädagogische Arbeit mit traumatisierten Menschen praktisch aus?
Ob Kind oder erwachsene Person, ich lasse mir keine Details über traumatische Erfahrungen schildern. Darin unterscheide ich mich von einer Therapeutin. Möglich ist zum Beispiel ein Spaziergang, um die Person gut im Hier und Jetzt zu verankern. Sich miteinander draussen zu bewegen hilft auch mir, mich vor einer Übertragung des Traumas zu schützen. Dabei sprechen wir beispielsweise darüber, welche Pflanzen, die wir antreffen, auch in ihrer Heimat zu finden sind. Plötzlich können wir über etwas lachen, es entsteht Vertrauen. Das ist nichts Spektakuläres. Es geht darum, es mit den Menschen auszuhalten – sie mussten das Schlimme ja schliesslich auch aushalten – und sie im Alltag zu begleiten. Dafür ist eine Organisation wie das K5 sehr wertvoll. Es kann ein sicherer Ort für die Eltern sein, die Deutsch lernen, und für die Kinder, die währenddessen dort betreut werden. Das ist auch der Grund, warum ich die Fachpersonen im K5 gerne als Supervisorin unterstütze.


Marianne Herzog ist Fachpädagogin und Fachberaterin Psychotraumatologie und als Dozentin und Supervisorin tätig. Sie gibt unter anderem im K5, dem Basler Kurszentrum für Menschen aus fünf Kontinenten, Weiterbildungen für Kursleiterinnen und Kursleiter. www.marianneherzog.com