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Porträt

Der Traurigkeit davonlaufen

TEXT: MIRIAM GLASS


Daygan Marz* ist aus politischen Gründen aus dem Iran geflohen. Seit 14 Jahren lebt er in Basel. Eine Geschichte vom Weggehen und Ankommen.

Beim Gespräch in Basel trägt Daygan Marz ein kariertes Hemd und eine Brille mit leicht getönten Gläsern. Etwas dunklere Brillengläser trug er bereits als Student in den 90er-Jahren in Irans Hauptstadt Teheran. Damals war die Brille eine von vielen Möglichkeiten, mit dem Überwachungsapparat des islamischen Regimes in Konflikt zu geraten. «Sonnenbrillen waren verboten», erinnert sich der heute 50-Jährige. «Sie galten als Versuch, sich attraktiver zu machen und die Blicke der Frauen auf sich zu lenken.»

Daygan Marz trinkt Wasser, während er im Garten eines Schweizer Freundes seine Geschichte erzählt. Das Gebäck auf dem Tisch rührt er nicht an. «Ich esse keine Kohlenhydrate», sagt er. Gesunde Ernährung ist ihm wichtig. Selbst entscheiden, was für ihn stimmt, was er denkt, isst, sagt oder anzieht, das sei für ihn zentral. Im Iran war dieser Wunsch für ihn jedoch lebensgefährlich.

Als kaum 20-jähriger Student sah Daygan nicht ein, warum er seine Brille – mit vom Optiker korrigierten Gläsern – ablegen sollte, und auch sonst stellte er die geltenden Regeln infrage. Mit anderen Studierenden organisierte er Proteste. Die Folge: Androhung von Strafe inklusive Ausschluss vom Studium, wenn er sich nicht offiziell entschuldigen würde. Fast zwei Jahre lang blieb Daygan der Universität fern. Und entschuldigte sich dann doch, um seinen Bachelor in Buchhaltung abschliessen zu können.

Beim Gespräch stockt er an dieser Stelle. Bis heute störe es ihn selbst, dass er damals dem Druck nicht standgehalten habe. Mehr Druck sollte folgen. Daygan Marz pflegte als Aktivist Kontakte zur Opposition. Bis ihn Gerüchte erreichten, dass er gesucht werde. Der Vorwurf: Verbindungen zum Widerstand im Ausland. «Von da an hatte ich Angst», sagt er. Andere wurden verhaftet, gefoltert oder auch getötet. «Ich musste mein Leben retten. Die Flucht war meine einzige Hoffnung.»

Heute arbeitet Daygan, der gelernte Buchhalter, als Sterilisations-Assistent in einem Spital in Basel. Er ist verheiratet, spricht sehr gut Deutsch und hat gerade mit Freunden eine Ferienwoche im Tessin verbracht.

Doch als er 2008 in Basel ankam, sei er ohne Hoffnung und ganz allein gewesen, erinnert er sich. «Es war eine dunkle Zeit.» Zwischen seiner Abreise aus Teheran und der Ankunft in der Schweiz lagen sechs Jahre. Ohne Aufenthaltsbewilligung schlug er sich in der Türkei und in Griechenland durch – eine Zeit, über die er nicht viel erzählen mag. Obwohl er vom Uno-Flüchtlingskommissariat als Flüchtling anerkannt war, brauchte es zwei Anläufe und jahrelanges Warten, bis er in Basel Asyl erhielt.

Was hat ihm damals geholfen durchzuhalten? «Sport», sagt er. «Ich lebte im Asylheim und ging regelmässig joggen. Das half mir, Kraft zu tanken. Ich bin der Traurigkeit davongelaufen.» Eine zweite wichtige Ressource sei bis heute die Erkenntnis, dass er selbst die Verantwortung für sein Leben trage. «Egal, wo wir sind, wir müssen auf eigenen Beinen stehen.» Auch in der Heimat müsse man sich anstrengen, Geld verdienen, sich immer bewegen.

Mit dieser Einstellung ging er immer weiter auf seinem Weg. «Es gibt viele Angebote in Basel, aber man muss sie auch in Anspruch nehmen und zeigen, dass man etwas lernen will», davon ist er überzeugt. In der Lederwerkstatt Rehovot fand er eine Tagesstruktur und soziale Kontakte. Das folgende Praktikum im Pflegezentrum Adullam habe ihm viel gebracht: «Bessere Sprachkenntnisse, ein besseres Verständnis für die hiesige Kultur und die Möglichkeit, im Anschluss als Pfleger zu arbeiten.» Er habe akzeptiert, dass er wegen der damals fehlenden Sprachkenntnisse nicht in der Buchhaltung arbeiten konnte. «Das war ganz einfach die Realität.»

Nach dem Einstieg bei Adullam machte Daygan Marz weitere Lehrgänge, packte neue Herausforderungen an. Zunächst die Ausbildung zum Fachangestellten Gesundheit, später die Weiterbildung für seinen heutigen Beruf. Ein Schweizer Freund bezeichnet ihn als «Musterflüchtling», als «angekommen, integriert, selbstständig».

«Die Fluchtgeschichte gehört zu mir, sie bestimmt fast mein halbes Leben», sagt Daygan. Sie prägt sein Leben auch heute. Er fühlt sich wohl in Basel, aber manches bleibt schwierig. Bei seiner Hochzeit vor knapp fünf Jahren etwa belastete ihn das Vorgehen der Behörden. Seine heutige Frau war damals im Asylverfahren, was kritische Fragen und bürokratische Hürden nach sich zog. «Wir wurden nur als Flüchtlinge gesehen, nicht als Menschen», sagt er. Stress verursache auch die politische Lage im Iran. Seine Eltern und seine acht Geschwister leben dort.

Daygan Marz selbst war seit seiner Flucht vor zwanzig Jahren nicht mehr im Iran. Er werde erst zurückgehen, wenn das politische System ein anderes sei, sagt er. Aus Angst um sein Leben. Und weil er dem Druck, der dort herrsche, nicht mehr nachgeben wolle, um keinen Preis. «Mir sind meine Rechte als Mensch wichtig», sagt er. «Solange diese Rechte an einem Ort nicht gelten, kann dieser Ort nicht meine Heimat sein.»

* Name geändert