Christoph Merian Stiftung

Psychologie

Ein Beitrag von Prof. Dr. Christina Tobler
Hochschule für Angewandte Psychologie, FHNW

Psychologische Erkenntnisse und Theorien können zum Verständnis von Überschuldung von Konsumentinnen und Konsumenten beitragen, indem sie erklären, welche Aspekte unser (finanzielles) Entscheidungsverhalten beeinflussen, welche psychologischen Faktoren das Risiko einer Überschuldung verstärken und welche Folgen eine Armuts- und Überschuldungssituation für die psychische Gesundheit haben kann.

Psychologische Einflussfaktoren auf das Überschuldungsrisiko

Tagtäglich treffen wir Entscheidungen, und viele davon haben finanzielle Konsequenzen: Was wir kaufen, wie wir für ein Produkt oder eine Dienstleistung bezahlen, ob wir einen Kredit aufnehmen, für etwas sparen oder Geld für die Altersvorsorge zurücklegen. Menschen entscheiden dabei nicht immer rational und haben häufig Mühe damit, sich an einen Sparplan zu halten. Ein Verständnis der Entscheidungspsychologie kann daher helfen, die Schwierigkeiten bei der Einhaltung einer langfristigen Budgetplanung zu verstehen (Huber & Gluth, 2019).

Um Überschuldung zu vermeiden, ist ein besonnener Umgang mit Geld über längere Zeit notwendig. Entscheidungen sind jedoch häufig zeitlich inkonsistent. Werden wir vor eine Wahl gestellt, entweder a) heute einen Apfel oder b) morgen zwei Äpfel zu erhalten, scheint die erste Option für viele Menschen durchaus attraktiv. Die Aussicht auf den sofortigen Verzehr eines Apfels ist verlockender, als einen weiteren Tag auf einen zusätzlichen Apfel zu warten – der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Wird die Wahl hingegen zeitlich verschoben, sieht die Entscheidung meist anders aus: Lautet die Wahl, entweder a) einen Apfel in einem Jahr oder b) zwei Äpfel in einem Jahr und einem Tag, entscheidet sich die Mehrheit für die zweite Option und den zweiten Apfel. In beiden Fällen erhält man für das Warten während eines Tages einen zusätzlichen Apfel – doch aufgrund der zeitlichen Verschiebung scheint sich die Bewertung der Wartefrist und der Belohnung verändert zu haben. Diese Präferenz-Umkehr ist auf die sogenannte zeitliche Diskontierung zurückzuführen: Belohnungen, die zeitlich verzögert erfolgen, werden gegenüber sofort verfügbaren Belohnungen abgewertet (diskontiert) (Huber & Gluth, 2019).

Die zeitliche Diskontierung führt also dazu, dass Menschen Genuss, positive Erlebnisse oder Belohnungen möglichst zeitnah anstreben – und unangenehme Aufgaben oder Kosten lieber auf später verschieben. So werden langfristige Budget- und Sparpläne angesichts unmittelbarer Verlockungen verworfen, die Bezahlung von Rechnungen aufgeschoben und Kreditschulden als weniger schmerzhaft wahrgenommen als Barzahlung, da die Zahlung erst später fällig wird (Huber & Gluth, 2019). Werbungen und Angebote, die den sofortigen Kauf propagieren, nutzen diese Tendenz aus. Slogans wie «Jetzt oder nie!» bekräftigen den Wunsch nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung. Angebote wie «Kaufe jetzt, bezahle später» unterstützen zusätzlich zur unmittelbaren Belohnung auch das Streben, die unangenehme Zahlung aufzuschieben. Solche Angebote machen es schwerer, den Verlockungen zu widerstehen. Ausserdem laufen Konsumentinnen und Konsumenten so langfristig Gefahr, durch die verzögerte Zahlung den Überblick über die getätigten Ausgaben zu verlieren und sich zu überschulden.

Neben der allgemeingültigen Tendenz der zeitlichen Diskontierung gibt es auch individuelle Einstellungen und Eigenschaften, die die Gefahr für Überschuldung beeinflussen. Bei finanziellen Entscheiden ist es häufig wichtig, auf Belohnungen warten zu können: Sparen, bis man sich etwas Teures leisten kann, oder Geld für eine spätere Altersrente auf die Seite zu legen. Dieser Belohnungsaufschub fällt einigen Menschen schwer, ist jedoch besonders in finanzieller Hinsicht wichtig. Beim berühmten «Marshmallow-Test» wurden Vorschulkinder vor die Wahl gestellt: Entweder eine Süssigkeit sofort zu bekommen – oder bis zu 20 Minuten zu warten und dafür zwei Süssigkeiten zu erhalten. Vorschulkinder, die bei diesem Test länger auf die Belohnung warten konnten, zeigten im Jugend- und Erwachsenenalter mehr Selbstkontrolle, konnten langfristige Ziele besser verfolgen und waren weniger anfällig für Verlockungen (Mischel, 2015). Dies beeinflusst auch das Risiko der Überschuldung: Wenn Kinder und Jugendliche gelernt haben, Belohnungen aufzuschieben, wirkt sich dies positiv auf eine nachhaltige Einstellung zu Geld aus und verringert letztlich die Überschuldungstendenz (Meier Magistretti et al., 2013).

Weitere wichtige individualpsychologische Schutzfaktoren gegen Überschuldung sind neben der Fähigkeit zum Belohnungsaufschub auch Selbstvertrauen, Selbstkontrolle und eine starke finanzbezogene Selbstwirksamkeitserwartung. Zudem spielen Einstellungen zu Konsum und Krediten ebenfalls eine wichtige Rolle: Eine materialistische oder konsumorientierte Haltung verstärkt das Überschuldungsrisiko, insbesondere wenn diese verbunden ist mit einem geringen Selbstwertgefühl, einem ausgeprägten Wunsch nach sozialem Ansehen und konsumorientierten Bezugspersonen. Eine bedachte und verantwortungsbewusste Einstellung zu Geld und Konsum hingegen wirkt sich protektiv gegen Überschuldung aus (Meier Magistretti et al., 2013).

Um Menschen präventiv gegen das Risiko einer Überschuldung zu unterstützen, sollten demnach bereits im Kindes- und Jugendalter die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub gefördert sowie das Selbstvertrauen gestärkt werden. Kinder und Jugendliche sollten einen verantwortungsbewussten Umgang mit Geld lernen in einem Umfeld, das sich nicht über materielle Werte und Konsum definiert. Dies unterstützt die Entwicklung einer gesunden Einstellung zu Geld und Konsum und stärkt die Fähigkeit, kurzfristigen Verlockungen zu widerstehen.

Psychologische Auswirkungen von Überschuldung

Armut löst bei den Betroffenen häufig Stress und negative Affekte wie Unzufriedenheit, Depression und Angstzustände aus. Stress und Angst erhöhen die Risikoaversion und verstärken die zeitliche Diskontierung hin zu einer stärkeren Gegenwartsfokussierung. Als möglicher Grund wird aufgeführt, dass Stress die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit der Betroffenen einschränkt und zu einer Verlagerung von zielgerichtetem zu gewohnheitsmässigem Verhalten führt (Haushofer & Fehr, 2014). Dies kann zu kurzfristigen und risikoscheuen – und damit nachteiligen – Entscheidungen führen. Durch die Einschränkung der Planungsfähigkeit und die Veränderung des Entscheidungsverhaltens verstärkt sich die Armut in einer Rückkopplungsschleife selbst und erschwert den Ausstieg aus der Armutsfalle. Ong et al. (2019) konnten denn auch aufzeigen, dass eine Reduzierung der Schulden die psychische Belastung der Betroffenen senkt und ihre psychologische und kognitive Leistungsfähigkeit verbessert.

In einer Übersicht berichten Oesterreich und Schulze (2012), dass finanzieller Stress und Überschuldung zu Depressionen sowie einem Verlust an Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl führen können. Zudem kann eine Überschuldungssituation eine erhöhte Aggressionsbereitschaft und damit soziale Schwierigkeiten und Isolation auslösen. Finanzieller Stress wird zudem mit einer erhöhten Kriminalitätsrate und vermehrten Einweisungen in psychiatrische Kliniken in Verbindung gebracht; ökonomischer Stress kann physisch krank machen und die Mortalitäts- und Suizidrate erhöhen. Auch verursacht finanzielle Not häufig Scham (Gladstone et al., 2021). Diese kann zu einem Rückzug führen, fördert die Wahrscheinlichkeit unvorteilhafter finanzieller Entscheidungen und verstärkt damit letztlich die finanzielle Notlage.

Unterstützung in Überschuldungssituationen

Angesichts der Einschränkung der kognitiven Leistungen unter Bedingungen von Stress und Angst sollte Schuldenprävention nicht auf kognitiven Ansätzen basieren. Die Erstellung und Einhaltung von Budgetplänen beispielsweise könnte Betroffene in einer Armuts- oder Überschuldungssituation überfordern. Stattdessen könnten Trainings zur Reduktion und Management von Stress sowie psychotherapeutische Interventionen gegen Angst und Depressionen die psychologischen Folgen von Armut und Überschuldung reduzieren (Huber & Gluth, 2019).

Auch van der Schoor et al. (2022) betonen, dass es bei der Unterstützung von Personen in Überschuldungssituationen nicht darum gehen sollte, Wissen zu vermitteln. Betroffene verfallen häufig in einen Trägheitszustand und sollten daher vor allem aktiviert werden. Wichtig ist es dabei, die Personen in ihrem eigenen Tempo zu begleiten und sie bei den notwendigen Aufgaben zu unterstützen (wie Telefonate mit Gläubigern zu führen). Gleichzeitig sollten die Betroffenen dazu motiviert werden, wieder selbst Aktionen auszuführen (wie beispielsweise die Post zu öffnen). Ebenfalls zentral ist die Unterstützung bei der Suche nach professioneller Hilfe und das Verbinden mit Hilfesystemen.

Massnahmen zur Verringerung der Schamgefühle in Überschuldungssituationen können zudem das Wohlbefinden der Betroffenen erhöhen und die Menschen dazu bringen, positive Schritte zur Verbesserung ihrer Situation zu unternehmen (Gladstone et al., 2021).