Politische Teilhabe
Die Schweizer Demokratie hat sich in den letzten hundert Jahren institutionell kaum verändert – umso mehr haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gewandelt. Die Bevölkerung ist heterogener geworden, die Lebensstile unterschiedlicher. Gleichzeitig haben die technologischen Möglichkeiten völlig neue Dimensionen erreicht und nehmen stetig weiter zu. Geräte werden smart, Städte zu Smart Cities und die Bürger : innen hoffentlich zu Smart Citizens. Was bedeutet das für unsere demokratische Organisation des Gemeinwesens ? Alles wird einfacher – aber wohl nicht für alle.
Anhand des Beispiels « Abstimmen » lässt sich die Spannung zwischen dem heute technisch Machbaren und dem auch wirklich Gewünschten gut illustrieren. Sowohl auf bundes- wie auch auf kantonaler Ebene wurde in den letzten Jahren intensiv die Einführung von E-Voting verhandelt, also die Möglichkeit der einfachen elektronischen Stimmabgabe. Aus technologischer Sicht wäre heute « Smart Voting » bereits möglich, ein digital assistiertes Wählen und Abstimmen. Stellen Sie sich vor, das digitale Abstimmungssystem würde Ihre politischen Präferenzen kennen : Mit Erreichen des Stimmrechtsalters füllen Sie einen Fragebogen aus und erhalten fortan Pushnachrichten mit Abstimmungsvorschlägen, die Ihren erhobenen politischen Präferenzen entsprechen. Sie könnten die Vorschläge mit einem Klick bestätigen oder bei Bedarf anpassen – das System würde daraus lernen und Ihnen bei der nächsten Vorlage passgenauere Empfehlungen liefern.
Ein solches System wäre nicht nur technisch realisierbar, sondern auch die tatsächliche Realisierung der durch E-Voting erhofften Effizienzgewinne (1), da die automatisch generierten Daten sinnvoll weiterverwendet würden. Und es wäre in seinen Vorhersagen wohl sehr treffgenau und so für viele Bürger : innen auch ganz bequem. Dennoch stösst man auf wenig Begeisterung, wenn man ein solches « Smart Voting » skizziert. Warum ? Auch weil ein solches System die Befürchtungen vor einer « digitalen Kluft », d.h. einer spezifischen, im Digitalen angelegten Ungleichheit, besonders berührt. Die Vorstellung einer so tiefgreifenden digitalen Transformation zentraler Elemente unseres politischen Lebens macht deutlich, welche Bedeutung zunächst der Sicherstellung eines gleichberechtigten Zugangs zur digitalen Welt für alle zukommt.
Schweizer Demokratie in der digitalen Welt
Gerade die Schweizer Demokratie kennzeichnet sich durch eine breite Beteiligung der Bürger : innen, basierend auf der Möglichkeit, bei Initiativen und Referenden regelmässig über zentrale Fragen mitzubestimmen. Dieses Modell hat sich bewährt. Doch es steht vor Herausforderungen : Die Digitalisierung verändert eben nicht nur, wie wir kommunizieren, sondern auch, wie wir Entscheidungen treffen.
Einerseits eröffnen digitale Technologien neue Chancen. Online-Plattformen erleichtern es Bürger : innen, sich über politische Themen zu informieren oder Unterschriften für Initiativen zu sammeln. Abstimmungen könnten durch E-Voting einfacher und sicherer gestaltet werden. Neue Abstimmungsformen wie « Fuzzy Voting » (2) werden möglich und liessen eine bessere Repräsentation des Wählerwillens zu. Anderseits verpuffen diese Chancen, wenn nicht alle gleichberechtigt Zugang zu diesen Technologien haben.
In der Schweiz tritt eine digitale Kluft daher potenziell besonders im politischen Leben zutage, da sie bislang gut integrierte Menschen langsam aus den demokratischen Prozessen ausschliessen würde. Das ist in unterschiedlichen Dimensionen möglich : über den technologischen Zugang, aufgrund der digitalen Kompetenzen und infolge der Bereitschaft, neue Technologien anzuwenden. All das birgt die Gefahr, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen von politischer Teilhabe ausgeschlossen werden.
Die Schweiz steht also vor der Herausforderung, ihre demokratischen Prinzipien auch in der digitalen Welt zu bewahren. Dabei müssen sowohl die Chancen der Digitalisierung genutzt als auch ihre Risiken minimiert werden.
Dimensionen der digitalen Kluft
Die digitale Kluft ist kein einheitliches Phänomen, sondern zeigt sich auf mehreren Ebenen, die sich gegenseitig verstärken. Der Zugang zu digitalen Technologien wird oft durch mangelnde Kompetenzen eingeschränkt, während fehlendes Vertrauen die Nutzung weiter hemmt. In der Schweiz sind diese Ebenen unterschiedlich ausgeprägt. So ist der technologische Zugang dank dem hohen Wohlstandsniveau und des gut ausgebauten Service public weniger problematisch als in anderen Ländern. Dennoch bleiben Zugangskosten für einkommensschwache Haushalte eine Hürde.
Grössere Bedeutung kommt hingegen den mangelnden digitalen Kompetenzen zu. Auch in einem Land mit hohem Bildungsniveau wie der Schweiz fehlen vielen Menschen grundlegende Fähigkeiten, um digitale Technologien sicher und effektiv zu nutzen. So haben über 20 Prozent der Bevölkerung Mühe mit grundlegendem Textverständnis und damit auch, mit grundlegenden digitalen Aufgaben zurechtzukommen. (3) Betroffen sind insbesondere Personen mit niedriger formaler Bildung, aber auch ältere Generationen, die nicht mit digitalen Technologien aufgewachsen und entsprechend in deren Nutzung ungeübt sind. Aufgrund mangelnder Fähigkeiten drohen beide Gruppen bei einer Digitalisierung der demokratischen Prozesse ( noch stärker ) ausgeschlossen zu werden.
Eine weitere Ebene ist das Vertrauen in digitale Systeme. Es stellt auch bei vorhandenem Zugang und ausreichenden Kompetenzen eine weitere Hürde dar, denn viele Schweizer : innen stehen digitalen Technologien skeptisch gegenüber, insbesondere wenn es um sensible Bereiche wie Wahlen oder Abstimmungen geht. Datenschutz, Cybersicherheit und die mangelnde Transparenz vieler digitaler Systeme spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Angst vor Hacks, Datenmissbrauch oder unbemerkter Einflussnahme durch Algorithmen mindert die Akzeptanz digitaler Verfahren. Konkret zeigen sich diese Bedenken beispielsweise bei der Akzeptanz von E-Voting : So befürworten zwar 72 Prozent der Schweizer : innen die Einführung von E-Voting, doch 38 Prozent hegen Sicherheitsbedenken und fürchten Manipulationen. (4)
Neben diesen technischen und kompetenzbezogenen Ebenen spielen auch kulturelle Faktoren eine wesentliche Rolle. Die direkte Demokratie in der Schweiz ist eng mit traditionellen Verfahren wie dem physischen Abstimmen verbunden. Diese Rituale schaffen Vertrauen und Identität und bringen sehr unterschiedliche Gruppen regelmässig in Austausch. Bei einer verstärkten Digitalisierung der politischen Prozesse entfallen die faktischen Notwendigkeiten solcher Rituale und Begegnungen. Der Übergang zu digitalen Prozessen geht daher potenziell einher mit dem Verlust kultureller Werte und von Begegnungen über die eigene politische Echokammer hinaus
Fazit
Digitale Ungleichheiten können dazu führen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen graduell aus den politischen Prozessen ausgeschlossen werden. Mangelndes Vertrauen in digitale Systeme untergräbt die Legitimität demokratischer Prozesse. Und der Verlust einer etablierten politischen Kultur kann zu einer Entfremdung von politischen Prozessen führen, insbesondere dann, wenn durch die Digitalisierung die politische Kommunikation fragmentiert wird und die politische Meinungsbildung in isolierten Kommunikationsräume stattfindet, in denen Meinungen verstärkt und selten hinterfragt werden.
Wie kann also die Digitalisierung der Demokratie gestaltet werden, damit die Teilhabe gewährleistet bleibt, also die digitale Teilhabe gelingt ?
Dazu braucht es vorderhand drei Dinge : Es ist unbedingt sicherzustellen, dass alle wahlberechtigten Bürger : innen sich die grundlegenden Kompetenzen aneignen können, um die jeweils notwendigen digitalen Tools für eine politische Teilhabe eigenmächtig zu bedienen. Entsprechende Bildungsangebote sind frühzeitig, ausreichend und kostengünstig anzubieten.
Zum Zweiten ist zur Sicherstellung des notwendigen Vertrauens der Einsatz transparenter und nachprüfbarer digitaler Systeme unabdingbar. Hierzu muss in der öffentlichen Verwaltung ein grundlegender Kompetenzaufbau stattfinden, um Abhängigkeiten von privaten Anbietern zu reduzieren. Zudem sind konsequent Open-Source-Ansätze zu verfolgen, bei denen unabhängige Stellen den Quellcode prüfen können. Schliesslich müssen Vorteile und die Sicherheitsmechanismen der eingesetzten Systeme aktiv und breit kommuniziert werden.
Drittens müssen Wege entwickelt werden, wie die bestehende « demokratische Kultur » in einer digitalen Demokratie adaptiert werden kann. Wie das gelingen soll, ist im Moment noch unklar, und entsprechend erfordert die Entwicklung einer wünschenswerten « digitalen demokratischen Kultur » die besondere Aufmerksamkeit aller Interessengruppen. Mögliche Ansätze könnten vorerst in hybriden Modellen liegen, die analoge und digitale Ansätze kombinieren und damit Bewährtes bewahren und Neues integrieren.
Zu der Bildung, der Transparenz und der Kulturentwicklung tritt im Schweizer Kontext noch eine spezifische Chance – der Föderalismus. Die föderale Struktur erlaubt es gerade auch im Bereich der digitalen Demokratie, eine Vielzahl lokaler « Experimente » durchzuführen. Diese Chance gilt es zu nutzen und dabei immer auch die spezifischen Dimensionen der politischen Teilhabe im Auge zu behalten. So können die enormen Potenziale der Digitalisierung auch im Bereich des Politischen genutzt und die politische Teilhabe in der Schweiz gar noch gestärkt werden. Die Schweiz kann ihre Tradition der direkten Demokratie auch in einer digitalisierten Zukunft bewahren.
(1) Die erhofften Effizienzgewinne aus dem E-Voting dürften gering ausfallen, solange mit der physischen, postalischen und elektronischen Stimmabgabe drei parallele Prozesse organisiert werden müssen.
(2) « Fuzzy Voting » bezeichnet Abstimmungsverfahren, bei welchen die Stimmberechtigten im Gegensatz zu herkömmlichen Ja / Nein-Abstimmungen die Möglichkeit zu einer nuancierten, graduellen Stimmabgabe haben. Die Auswertung der Ergebnisse folgt dann einer sogenannten Fuzzy-Logik zur Datenverarbeitung von Wahrheitsgraden.
(3) OECD ( 2024 ). Survey of Adults Skills 2023 : Switzerland www.oecd.org/en/publications/survey-of-adults-skills-2023-country-notes_ab4f6b8c-en/switzerland_c6e580a6-en.html
(4) GFS Zürich ( 2023 ). Einstellungen zu e-Voting gfs-zh.ch/schweizer-bevoelkerung-befuerwortet-e-voting/