Jugend
Kinder und Jugendliche sind in westlichen Gesellschaften von vielfältigen Ungleichheiten betroffen, die ihre Entwicklungschancen und Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe beeinträchtigen. Ungleichheiten bestehen in Lebensbereichen wie der Bildung oder der finanziellen und materiellen Ausstattung. Treffen unterschiedliche Benachteiligungen zusammen, können sich die Belastungen bei Heranwachsenden kumulieren. Ein zunehmend wichtiger Aspekt von Ungleichheit ist die Ausstattung mit und der Zugang zu digitalen Technologien.
Unterschiede im Zugang zu Geräten
Während im Jahr 2024 praktisch alle Jugendlichen in Familienhaushalten über Internetzugang, Handy und Computer / Laptop verfügen, zeigen sich je nach sozioökonomischem Status einige Unterschiede bei spezifischen Geräten, die insgesamt seltener vorhanden sind, wie z.B. DVD-Geräte, tragbare Spielkonsolen, Smartwatches oder E-Book-Reader. Mit steigendem sozioökonomischem Status besitzen Jugendliche häufiger eigene Geräte. Sie haben auch häufiger Zugang zu Abonnements wie Film-, Musik-, Fernseh-, Zeitschriften-, Zeitungs-, E-Book-Reader- und KI-Anwendungs-Abos ( Külling et al. 2024 ).
Unterschiede im Zugang zu Anwendungen, Kompetenzen und Folgewirkungen
Insgesamt besteht eine digitale Kluft somit nicht in einem ( fehlenden ) Zugang zum Internet, sondern im ( fehlenden ) Zugang zu spezifischen Anwendungen und Inhalten – was sich in der Vielfalt der möglichen Aktivitäten niederschlägt und unterschiedliche Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bedeutet. Daraus folgen somit auch unterschiedliche Chancen der Kompetenzaneignung ( Külling et al. 2024 ; van Deursen & van Dijk 2019 ).
Auch die Onlineaktivitäten von Heranwachsenden unterscheiden sich nach Bildungshintergrund :
Jugendliche aus höheren Bildungsschichten betätigen sich beispielsweise deutlich öfter online politisch und erschliessen sich dadurch etwa neue soziale Netzwerke ( Jans et al. 2022 ). Hingegen geht ein geringerer formaler Bildungsstand mit mehr passivem Konsum Sozialer Medien und mit einem höheren Anteil an regelmässigem Gamen einher ( Feierabend et al. 2024 ). Laut der Schweizer Studie « always on » machen sich Jugendliche mit steigender formaler Bildung öfter Gedanken zu ihrer Online-Nutzung und zu den gesellschaftlichen Auswirkungen des Internets. Sie haben seltener das Gefühl, dass sie online nichts Wichtiges verpassen wollen und fühlen sich seltener durch Apps unter Druck gesetzt, welche Nutzung belohnen und Abwesenheit bestrafen ( Steiner & Heeg 2019 ). Auch ist das psychische Wohlbefinden bei weiblichen Jugendlichen mit tiefem sozioökonomischem Status durch die Social-Media-Nutzung beeinträchtigt ( Mader et al. 2025 ). Weiter zeigen sich auch hinsichtlich problematischem Verhalten bildungsbezogene Unterschiede : Jugendliche mit niedrigem formalem Bildungsgrad werden öfter online persönlich beleidigt (Feierabend et al. 2024, 56).
Etwas überraschend ist, dass
mit steigendem Bildungsgrad Jugendliche häufiger auf problematische
Inhalte im Netz ( wie Hate Speech, beleidigende Kommentare, ungewollte
pornografische Inhalte ) stossen. Dies könnte an einer unterschiedlichen
Einordnung von entsprechenden Erfahrungen im Netz liegen ( Feierabend
et al. 2024, 54 ), also daran, dass Jugendliche mit steigendem formalem
Bildungsgrad problematische Inhalte häufiger als solche erkennen. Es
sind zudem Wechselwirkungen zu beobachten : Eine problematische
Mediennutzung steht oftmals in Zusammenhang mit belastenden sozialen
Kontexten mit Gleichaltrigen und dem Elternhaus sowie fehlendem Support
von Erwachsenen. Die problematische Mediennutzung ist insofern Ausdruck
von Benachteiligungen und kann diese zugleich weiter verschärfen
( Odgers & Jensen 2020 ).
Für sozioökonomisch benachteiligte Kinder und Jugendliche gilt somit insgesamt :
1. Sie haben einen eingeschränkten Zugang zu spezifischen digitalen Technologien, was sich in weniger vielfältigen Onlineaktivitäten niederschlägt.
2. Sie haben geringere Kenntnisse und Fähigkeiten, um digitale Technologien zu nutzen und Onlineaktivitäten kritisch zu reflektieren.
3. Sie erleben vielfältige ( auch physisch-materielle ) Folgen von digitalen Ungleichheiten.
Mit der zunehmenden Bedeutung digitaler Technologien in modernen Gesellschaften haben digitale Ungleichheiten in Bezug auf Wissen und Fertigkeiten also weiterreichende Folgen für die Bildungswege Heranwachsender.
Ansätze zur Überwindung der digitalen Kluft
Es braucht deshalb Ansätze zum Umgang mit der digitalen Kluft unter Heranwachsenden. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ( OKJA ) ist ein wichtiger Bildungsort insbesondere für benachteiligte Jugendliche und ist damit ein zentrales Feld einer gerechtigkeitsorientierten Sozialen Arbeit ( Fuchs, Gerodetti & Gerngroß 2022 ; Gerodetti et al. 2020 ; Schwerthelm & Sturzenhecker 2021 ).
Die OKJA orientiert sich an
den fachlichen Standards Bedürfnisorientierung, Freiwilligkeit,
Offenheit sowie Niederschwelligkeit. Gegenüber stärker
kompetenzorientierten schulischen Ansätzen bestehen damit eigenständige
Potenziale, digitale Ungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen zu
adressieren. Im Folgenden werden entlang ausgewählter fachlicher
Standards der OKJA Überlegungen für eine gerechtigkeitsorientierte
Bearbeitung digitaler Ungleichheiten formuliert ( vgl. Steiner 2025 ) :
Verstehen
und Anerkennen subjektiver Lebenswirklichkeiten : Jede Mediennutzung
ist in soziale Kontexte eingebettet. Fachpersonen sind daher
aufgefordert, die Sinnhaftigkeit der Mediennutzung Heranwachsender im
Kontext ihrer subjektiven Lebenswirklichkeit nachzuvollziehen, auch wenn
diese von gesellschaftlichen Normen abweicht. Gerade wenn
milieubezogene Unterschiede zwischen Fachpersonen und Adressat : innen
bestehen, ist eine interessierte, unvoreingenommene Haltung zentral, um
die komplexen, digital geprägten Lebenswelten der Heranwachsenden in
ihrer subjektiven Sinnhaftigkeit zu verstehen und bedarfsgerechte
Angebote zu entwickeln. Dies bedeutet nicht kritiklose Akzeptanz,
sondern das Anliegen, die Motive Heranwachsender für ihre Mediennutzung
im Kontext ihrer Lebenslagen zu verstehen und medienrelevante Themen als
Gelegenheit für pädagogische Auseinandersetzungen zu nutzen.
Ressourcenorientierung :
Ein zentrales Element ausserschulischer Jugendarbeit besteht in der
Orientierung an den Ressourcen von Kindern und Jugendlichen – ohne
Belastungen und Benachteiligungen zu ignorieren. Heranwachsende verfügen
oftmals über spezifisches medienrelevantes Wissen, beispielsweise zur
kulturellen Bedeutung von Memes, Ästhetik in Sozialen Medien oder Formen
der Konfliktbearbeitung auf Instant-Messaging-Plattformen. Dieses
Wissen gilt es in der OKJA aufzugreifen und mit Jugendgruppen gemeinsam
in Austausch zu bringen. Ziel ist dabei, über die Aneignung von
Medienkompetenzen hinaus selbstorganisierte Bildungsprozesse für die
Erlangung von Autonomie und Beteiligungsfähigkeiten auch gerade für
benachteiligte Jugendliche zu ermöglichen.
Möglichkeitsräume
schaffen : Ein zentrales Element einer gerechtigkeitsorientierten
professionellen Arbeit in der Digitalität liegt darin, Heranwachsenden
Erfahrungs- und Möglichkeitsräume für neue, aktive, kreative und
kollaborative Online-Aktivitäten zu eröffnen sowie ihnen Zugang zu
vielfältigen Technologien zu verschaffen und sie bei deren Nutzung zu
begleiten.
Partizipation : Ein bedeutendes demokratiebildendes
Arbeitsprinzip der OKJA ist die Schaffung von Gelegenheiten zur aktiven
Beteiligung von Heranwachsenden an der Ausgestaltung der Einrichtung und
des lokalen Umfelds. Die Heranwachsenden erproben dabei
Selbstorganisation und Mitbestimmung und machen die Erfahrung, Einfluss
auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen. Digitale Medien können
dabei als Mittel der Beteiligung eingesetzt werden, z.B. bei
Beteiligungsprozessen in der Einrichtung oder der Gemeinde, oder
Gegenstand partizipativer Prozesse sein – zum Beispiel, wenn es um die
Social-Media-Aktivitäten der Einrichtung oder die Einrichtung eines
Minecraft Servers geht.
Politische Einmischung : Eine
dysfunktionale Mediennutzung kann auch Ausdruck von Benachteiligungen
und Stressoren sein, die gesellschaftlich verursacht sind. Die OKJA
sollte deshalb nicht nur im pädagogischen Binnenraum agieren, sondern
auch auf politischer Ebene Benachteiligungen und ungleiche
Lebensbedingungen thematisieren.
Fazit
Sozioökonomisch benachteiligte Jugendliche werden im digitalen Raum auf vielfältige, eher subtile Art benachteiligt. Ungleichheiten im digitalen Raum verstärken dabei die Belastungen, die Heranwachsende im analogen Bereich erleben. Die OKJA kann mit ihrer kritischen, partizipativen und ressourcenorientierten Herangehensweise benachteiligte Jugendliche auch bezogen auf digitale Benachteiligungen unterstützen. Wenn es nicht gelingt, benachteiligte Heranwachsende sowohl offline als auch online angemessen zu unterstützen, besteht die Gefahr, dass sich die digitale Kluft vertieft.
Literaturhinweise
Feierabend, S., Rathgeb, T., Gerigk, Y. & Glöckner, S. ( 2024 ). JIM-Studie 2024. Jugend, Information. Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest mpfs.
Fuchs, M., Gerodetti, J. & Gerngroß, M. ( Hrsg. ) ( 2022 ). Offene Kinder- und Jugendarbeit in der Schweiz : Einblicke in Theorie, Konzepte, Empirie und Alltagspraxis. Springer Fachmedien. doi.org/10.1007/978-3-658-37670-3
Gerodetti, J., Fuchs, M., Fellmann, L., Gerngross, M. & Steiner, O. ( 2020 ). Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Schweiz. Ergebnisse der ersten schweizweiten Umfrage. Seismo Verlag.
Jans, C., Golder, L., Pepe, A., Burgunder, T., Bohn, D. & Rey, R. ( 2022 ). Jugendbarometer 2022. Unsicher statt unbeschwert : Die Jugend in Zeiten der Krise. Credit Suisse und gfs.bern.
Külling, C., Waller, G., Willemse, I., Deda-Bröchin, S., Suter, L., Streule, P., Settegrana, N., Jochim, M., Bernath, J. & Süss, D. ( 2024 ). JAMES. Jugend, Aktivitäten, Medien. Erhebung Schweiz. Ergebnisbericht zur JAMES-Studie 2024. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW.
Mader, S., Costantini, D., Fahr, A. & Jordan, M. D. ( 2025 ). The effect of social media use on adolescents’ subjective well-being : Longitudinal evidence from Switzerland. Social Science & Medicine, 365. doi.org/10.1016/j.socscimed.2024.117595
Odgers, C. L. & Jensen, M. R. ( 2020 ). Adolescent development and growing divides in the digital age. Dialogues in Clinical Neuroscience, 22( 2 ), 143 – 149. doi.org/10.31887/DCNS.2020.22.2/codgers
Schwerthelm, M. & Sturzenhecker, B. ( 2021 ). In der Offenen Jugendarbeit geht noch was. Sozial Extra, 45( 5 ), 339 – 343. doi.org/10.1007/s12054-021-00420-9
Steiner, O. ( 2025 ). Fachliche Standards der Kinder- und Jugendarbeit in einer Kultur der Digitalität. In E. Rösch & N. Brüggen ( Hrsg. ), ( Post )Digitale Kinder- und Jugendarbeit. Beltz Juventa ( in Erscheinung ).
Steiner, O. & Heeg, R. ( 2019 ). Studie « always on » : Wie Jugendliche das ständige Online-Sein erleben. Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. www.alwayson-studie.ch
Van Deursen, A. J. & van Dijk, J. A. ( 2019 ). The first-level digital divide shifts from inequalities in physical access to inequalities in material access. New Media & Society, 21( 2 ), 354 – 375. doi.org/10.1177/1461444818797082