Behinderung

Ein Beitrag von Silvano Ackermann
Institut Integration und Partizipation, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

Die Schweiz hat 2014 die UN-Behindertenrechtskonventionen ratifiziert und sich damit ver­pflichtet, die darin enthaltenen Vorgaben umzusetzen ( vgl. Pärli, Recht, S. 79 ). Diese verpflich­tet Bildungsorganisationen, Arbeitgebende sowie Bund, Kantone und Gemeinden, die soziale Teil­habe für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. Jedoch zeigt ein 2022 veröffentlichter Schattenbericht des Behindertendachverbands Inclusion Handicap, dass die Teilhabe in der Schweiz nach wie vor in vielen Bereichen mangelhaft oder gar nicht umgesetzt wird. Eine schweizweit angelegte Studie der Hochschule für So­ziale Arbeit FHNW hat diesen Befund für den Bereich der Berufsbildung detailliert bestätigt. Dies gilt auch im digitalen Raum. Das Ziel sollte digitale Barrierefreiheit und digitale Teilhabe für alle sein.

Digitale Barrierefreiheit

Während Barrierefreiheit im Bereich der Gebäude- und Städtebauplanung zunehmend ein Begriff ist, bleibt digitale Barrierefreiheit mehrheitlich unbekannt. Wenn etwa Wirtschaftsunternehmen oder Bildungsorganisationen Digitalisierungsmassnahmen vorantreiben, werden manche Personengruppen regelmässig vergessen. Eine schlecht navigierbare Webseite oder ein unzureichend aufbereitetes PDF-Dokument kann ähnliche Konsequenzen haben wie ein Gebäude ohne Aufzug.

Ein klassisches Beispiel für eine solche Barriere ist, wenn der Text in einer Datei oder auf einer Webseite nicht als Text, sondern als Bild formatiert ist. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn ein Textabschnitt als Screenshot gespeichert oder ein Abschnitt aus einem Buch gescannt und dann in eine Datei kopiert wird. Für Personen mit einer Sehbehinderung, die einen Screenreader ( ein Vorleseprogramm ) verwenden, ist es nicht möglich, sich diesen Text direkt durch das Programm vorlesen zu lassen. In vielen Fällen liesse sich dieser Umstand ohne grossen Aufwand verhindern.

Digitale Teilhabe

Die Vereinten Nationen definieren digitale Teilhabe als « gerechten, sinnvollen und sicheren Zugang zur Nutzung, Leitung und Gestaltung digitaler Technologien, Dienste und der damit verbundenen Möglichkeiten, für alle und überall » ( Digital Inclusion o.J., eigene Übersetzung aus dem Englischen ). Da viele Bereiche des Alltagslebens digitalisiert sind, ist die digitale Teilhabe unabdingbar. Ob in der Rolle als Bürger : in, Arbeitnehmer : in oder als Konsument : in – ohne digitalen Zugang sind die Teilhabechancen für Betroffene massiv eingeschränkt.

Die Studie « Aktion Mensch » ( Borgstedt & Möller-Slawinski, 2020 ) unterscheidet folgende Dimensionen der digitalen Teilhabe von Menschen mit Behinderung :

Teilhabe an digitalen Technologien und Medien : Dies umfasst den Zugang zu digitalen Geräten und Medien sowie den Erwerb digitaler Kompetenzen.

Teilhabe durch digitale Technologien : Hier sind alternative Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Bereichen gemeint. Dazu zählen unterstützende Technologien wie das oben erwähnte Vorleseprogramm, moderne Hörgeräte oder digital unterstützte Prothesen. Diese Technologien kompensieren individuelle Beeinträchtigungen und fördern die Chancengleichheit für die Teilhabe an wichtigen sozialen Bereichen wie der Bildung und dem Arbeitsmarkt.

Teilhabe in digitalen Medien : Dies bezeichnet die Präsenz in und Mitgestaltung von digitalen Medien. Es umfasst die Möglichkeit, sich auf Plattformen wie YouTube einzubringen, auf sozialen Netzwerken Gruppen zu bilden und sich zu vernetzen. Durch das Sichtbarmachen und Vernetzen kann auch eine ( politische ) Partizipation erfolgen, was letztlich Empowerment ermöglicht.

Neue Chancen, neue Handlungsspielräume

Digitale Barrieren können die Teilhabe beeinträchtigen. Gleichzeitig eröffnet die Digitalisierung viele neue Chancen für Menschen mit Behinderungen.

Digitale Medien erweitern den Handlungsspielraum und damit die Möglichkeiten, Barrieren zu umgehen oder mit ihnen umzugehen. Es gibt digitale Hilfsmittel, die speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zugeschnitten sind. Viele Menschen mit ( und ohne ) Behinderungen entwickeln dank digitaler Technologie neue Handlungsstrategien. Ein gutes Beispiel dafür ist das Smartphone. Menschen mit Sehbehinderungen fotografieren Texte und vergrössern die Ansicht auf dem Display, um den Text lesen zu können. Menschen, die besonders sensibel auf Geräusche reagieren ( z.B. aufgrund von ADHS, Autismus oder Angststörungen ), benutzen in der Schule, im Büro oder in öffentlichen Verkehrsmitteln Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung. Eine Frau mit einer dissoziativen Identitätsstörung berichtet beispielsweise, wie sie auf ihrem Handy gezielt Apps nutzt, um innere Anteile zu befriedigen, die sich ansonsten störend im Alltag auswirken könnten ( Inclusion Digital o.J. ).

Auch die Barriere des Textes im Bildformat kann mit den richtigen Hilfsmitteln überwunden werden. Es gibt Technologien, die Text aus Bildern erkennen können. Optische Zeichenerkennung findet bereits in vielen Gebieten Anwendung.

Der Einsatz zusätzlicher digitaler Mittel baut die Barrieren jedoch nicht vollständig ab. Eine betroffene Person kann die Barriere nur durch Mehraufwand mindern oder überwinden. Sie muss im Vergleich zu anderen Personen mehr Zeit und Arbeit investieren, um das gleiche Ziel zu erreichen. Medien oder Inhalte, die nicht bereits barrierefrei sind, stellen daher für bestimmte Personengruppen immer eine Benachteiligung dar, auch wenn die Barriere überwindbar ist.

Weiter zeigen die Beispiele, dass die Betroffenen für die Entwicklung ihrer Strategien digitale Kompetenzen benötigen. Damit besteht auch das Potenzial für neue Formen der Ungleichheit. Bestehende Ungleichheiten können potenziert werden, wenn sie beispielsweise am Knotenpunkt ( der Intersektion ) zwischen sozialer Herkunft und Behinderung entstehen.

Intersektionalität der digitalen Ungleichheit

Unterschiede in der Nutzung von digitalen Medien sowie die notwendigen Kompetenzen dafür haben Konsequenzen für die Lebensentwürfe und Lebenschancen von Betroffenen ( third level digital divide, vgl. auch Einleitung, S. 13 ).

Menschen mit Behinderung brauchen hohe digitale Kompetenzen, um Strategien zur Überwindung ihrer digitalen Barrieren entwickeln zu können. Das birgt auch das Potenzial für neue Formen der Ungleichheit. Bestehende Ungleichheiten können sich potenzieren, wenn beispielsweise ein geringer Bildungshintergrund oder tiefes Einkommen mit einer Behinderung zusammenfallen. Menschen mit Behinderungen benötigen sowohl technische Hilfsmittel ( first level ) als auch die Möglichkeit oder Kompetenz, diese zu bedienen ( second level ). Man kann sich daher leicht vorstellen, wie sich der Effekt der digitalen Kluft hier verstärken kann.

Gerade im Bereich des Digitalen, der einem rasanten und kontinuierlichen Wandel unterliegt, gilt es umso mehr, vorausschauend zu handeln. Politik und Wirtschaft sind angehalten, nachhaltige und anpassungsfähige Massnahmen zu entwickeln, um digitale Teilhabe zu ermöglichen. Initialaufwände sind dabei als Investitionen zu sehen. In vielen Fällen entstehen höhere Kosten, wenn man bereits implementierte Strukturen nachträglich barrierefrei umgestalten muss.

Was bei all dem gerne vergessen geht : Zugänglichkeit betrifft alle Menschen, nicht nur solche, die von Behinderung betroffen sind. Der sogenannte Universal Design-Ansatz bringt dies auf den Punkt : Notwendig für manche, gut für alle. Beispielsweise ist es für manche Menschen unerlässlich, dass sie ihren Computer mit Tastaturbefehlen bedienen können. Durch die bestehenden Tastenbefehle entstehen für alle anderen flexiblere Eingabemöglichkeiten. Gerade Personen, die häufig am Computer arbeiten, wissen das sehr zu schätzen. Re­sponsive Design von Webseiten für Blinde macht Webseiten auch für andere Nutzer : innen zugänglicher. Klare Kontraste sind für Menschen mit Sehbehinderungen nötig. Sie dienen allen Menschen, z.B. bei starker Sonneneinstrahlung. Spracherkennung ist für Menschen mit Dyslexie nötig. Für andere praktisch.

Fazit

Die Digitalisierung bietet an vielen Stellen neue Möglichkeiten, den Handlungsspielraum zu erweitern. Wer mehr Optionen hat, ist im Vorteil. Für Organisationen eröffnet sich die Chance, ihre Angebote besser zugänglich zu machen. Für Individuen ergeben sich neue Möglichkeiten, bestehende Barrieren zu überwinden und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wenn digitale Medien gezielt zum Nutzen aller Beteiligten eingesetzt werden, gibt es nur Gewinner.

In der Realität werden diese Möglichkeiten jedoch nicht gezielt zur Förderung der Teilhabe genutzt. Die Welle des digitalen Wandels trifft Individuen und Organisationen gleichermassen unvorbereitet. In den Organisationen fehlen Ressourcen sowie Bewusstsein und Wissen zu den Themen Behinderung und Digitalisierung. Die Betroffenen müssen zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um mit den neuen Barrieren umzugehen. Gleichzeitig müssen sie ihr Umfeld laufend über Einschränkungen und Möglichkeiten aufklären und für ihre Rechte kämpfen.

Die Digitalisierung hat das Potenzial, bestehende Ungleichheiten für Menschen mit Behinderungen zu vergrössern – oder sie zu verringern. Entscheidend ist, wie wir mit ihr umgehen.

Literaturhinweise

Borgstedt, S. & Möller-Slawinski, H. ( 2020 ). Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderung. www.sinus-institut.de/media-center/studien/digitale-teilhabe-von-menschen-mit-behinderung-trendstudie

Digital Inclusion ( o.J. ). United Nations. www.un.org/techenvoy/sites/www.un.org.techenvoy/files/general/Definition_Digital-Inclusion.pdf ( abgerufen 10.02.2025 )

Inclusion Digital ( o.J. ). Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Bildung. www.inclusion-digital.ch/ ( abgerufen 10.02.2025 )

Scheibler, C. H. & Eliane, K. ( 2022 ). Aktualisierter Schattenbericht – Bericht der Zivilgesellschaft anlässlich des ersten Staatenberichtsverfahrens vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. www.inclusion-handicap.ch/de/themen/un-brk/schattenbericht-667.html